Autoritärer Charakter und das Corona-Milgram Experiment

Ein Netzfund vorweg:

2020: Ich verlasse nur zum Einkaufen meine Wohnung.
Ich fange an anders denkende zu beschimpfen. Arbeitskollegen, Nachbarn, Freunde, Familienmitglieder.
Wenn keine Einsicht erfolgt zeige ich sie an.
Alle, immer wieder.
Es wird von der Regierung so befohlen, ich folge.
Ich bin ein guter, gesetzestreuer Bürger.
Meine Kinder dürfen selbstverständlich niemanden mehr treffen. Eltern, die verbotene Kontaktangebote machen, zeige ich an. Über die auf meinem Handy installierte Tracking App haben die Behörden alle meiner Telefonkontakte unter Kontrolle.

2026: Ich habe, bis auf vier Online Kontakte, keine Freunde mehr. Viele Nachbarn waren irgendwann weg, die kritischen Journalisten meiner Lieblingszeitung starben peu á peau überraschend.
Das Online Paket des städtischen Blumenhandels steht vor der Tür. Ich packe 2 Blumentöpfe aus, tippe „privaten Spaziergang“ ins Handy und gehe zum Friedhof.
Einer ist für meine beste Freundin -früher mal. Sie sprang, als ihr die Kinder weggenommen wurden, weil ihr Ex-Partner sie wegen Nichtbeachtung der Kontaktsperre angezeigt hatte (ich auch fast täglich), vom Balkon. Sie wollte es einfach nicht verstehen, wie wichtig es für alle war die Gesetzesvorschriften zu beachten.
Der andere Blumentopf ist für meine Eltern.
Sie starben 2023 in einem Heim für alte Menschen, zum letzten Mal sah ich sie am 13.3.2020. Sie wollten irgendwann nicht mehr telefonieren, aber sie haben noch 3 Jahre überlebt.
Nach dem Spaziergang wasche ich mir sogleich die Hände.

Ich bin ein guter, regeltreuer Deutscher.

Autoritärer Charakter und das Corona-Milgram Experiment

Das Konzept des autoritären Charakters geht wesentlich auf Erich Fromm zurück, der es am Institut für Sozialforschung unter der Leitung Max Horkheimers in den 1930er-Jahren entwickelte.
Unter dem Begriff „autoritärer Charakter“ fasst Erich Fromm ein bestimmtes Muster von sozialen Einstellungen bzw. Persönlichkeitseigenschaften, die das Sozialverhalten seiner Auffassung nach negativ prägen, u. a. durch Vorurteile, Konformität, Destruktivität, Autoritarismus, extremem Gehorsam gegenüber Autoritäten, Rassismus und Ethnozentrismus, d. h. Ablehnung des Fremden und fremder Kulturen.

Im Zuge der Aufarbeitung der Mechanismen und Methoden, mit denen der Faschismus in Deutschland möglich wurde, führte Stanley Milgram 1961 in New Haven, Connecticut USA – also mit amerikanischen und nicht mit deutschen Probanden – sein berühmt gewordenes „Milgram Experiment“ durch. Bei dem Experiment sollten die sozialpsychologischen Hintergründe erhellt werden, wie leicht man Menschen dazu bringen kann, andere zu quälen, zu töten und gegen ihr Gewissen zu handeln. Eine Nebenfragestellung sollte dazu dienen, herauszufinden, ob Deutsche einen besonders obrigkeitshörigen Charakter haben, der sie dazu bringt, gegen ihre in der Kulturgeschichte entwickelten Überzeugungen und Zweifel zu handeln.

1974 veröffentlichte Milgram seine Ergebnisse zu den Experimenten von 1961 und bezog sich hier vor allem auch auf Hannah Arendts Buch, Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen. Dieses Konzept der Banalität des Bösen, so argumentierte er, komme der Wahrheit sehr nahe. Die fundamentalste Erkenntnis der Untersuchung sei, dass ganz gewöhnliche Menschen, die nur ihre Aufgabe erfüllten und keinerlei persönliche Feindschaft empfinden, zu Handlungen in einem Vernichtungsprozess veranlasst werden können.

Der ganze Ablauf des Experiments war wie ein Theaterstück inszeniert, bei dem alle außer dem Probanden eingeweiht waren. Eine Versuchsperson und ein Vertrauter des Versuchsleiters, der vorgab, ebenfalls Versuchsperson zu sein, sollten an einem vermeintlichen Experiment zur Untersuchung des Zusammenhangs von Bestrafung und Lernerfolg teilnehmen.

Ein offizieller Versuchsleiter bestimmte den Schauspieler durch eine fingierte Losziehung zum „Schüler“, die tatsächliche Versuchsperson zum „Lehrer“.

Vorab sollte durch die Verabreichung eines elektrischen Schlags, mit einer Spannung von 45 Volt, der Versuchsperson die körperlichen Folgen elektrischer Schläge vergegenwärtigt werden. Zudem wurde das an einen elektrischen Stuhl erinnernde Versuchsinventar gezeigt, auf dem der „Schüler“ getestet werden sollte. Diese Versuchsanordnung mit der gewollten Assoziation an einen elektrischen Stuhl wurde von den Probanden zu keinem Zeitpunkt in Frage gestellt.

Der Versuch bestand darin, dass der „Lehrer“ dem „Schüler“ bei Fehlern in der Zusammensetzung von Wortpaaren jeweils einen elektrischen Schlag versetzte. Dabei wurde die Spannung nach jedem Fehler um 15 Volt erhöht.

In Wirklichkeit erlebte der Schauspieler keine elektrischen Schläge, sondern reagierte nach einem vorher bestimmten Schema, abhängig von der eingestellten Spannung. Erreichte die Spannung beispielsweise 150 Volt, verlangte der Schauspieler, von seinem Stuhl losgebunden zu werden, da er die Schmerzen nicht mehr aushalte. Dagegen forderte der dabeisitzende Experimentator, dass der Versuch zum Nutzen der Wissenschaft fortgeführt werden müsse. Wenn die Versuchsperson Zweifel äußerte oder gar gehen wollte, forderte der Experimentator in vier standardisierten Sätzen zum Weitermachen auf. Die Sätze wurden nacheinander, nach jedem geäußerten Zweifel der Versuchsperson, gesprochen und führten nach dem vierten Mal zu einem Abbruch des Experimentes seitens des Versuchsleiters. Damit die Sätze immer gleich ausfielen, wurden sie vorher mit dem Schauspieler eingeübt, insbesondere auch, um einen drohenden Unterton zu vermeiden.

Satz 1: „Bitte, fahren Sie fort!“ Oder: „Bitte machen Sie weiter!“

Satz 2: „Das Experiment erfordert, dass Sie weitermachen!“

Satz 3: „Sie müssen unbedingt weitermachen!“

Satz 4: „Sie haben keine Wahl, Sie müssen weitermachen!“

Es gab noch weitere Standardsätze in antizipierten Verlaufssituationen: Wenn die Versuchsperson fragte, ob der „Schüler“ einen permanenten physischen Schaden davontragen könne, sagte der Versuchsleiter: „Auch wenn die Schocks schmerzvoll sein mögen, das Gewebe wird keinen dauerhaften Schaden davontragen, also machen Sie bitte weiter!“

Auf die Aussage des „Lehrers“, der „Schüler“ wolle nicht weitermachen, wurde standardmäßig geantwortet: „Ob es dem Schüler gefällt oder nicht, Sie müssen weitermachen, bis er alle Wörterpaare korrekt gelernt hat. Also bitte machen Sie weiter!“

Wenn nach der Verantwortung gefragt wurde, sagte der Versuchsleiter, er übernehme die Verantwortung für alles, was passiert.

Der Schüler reagierte auf die Stromschläge mit auf Band aufgenommenen Schmerzensäußerungen. Diese hatten Milgram in Vorversionen des Experiments zunächst gefehlt, die Gehorsamkeitsbereitschaft war dann aber so hoch, dass er sie hinzufügte.

Der „Schüler“ war in diesem Fall ein unauffälliger Amerikaner irischer Abstammung und repräsentierte einen Menschentyp, mit dem Fröhlichkeit und Gelassenheit verbunden wurde. Mit dieser Auswahl sollte eine Beeinflussung der Handlungsweise durch eine mentale Disposition des Probanden vermieden werden. Zudem war es wichtig, dass die Versuchspersonen weder von dem Versuchsleiter noch von dem „Schüler“ unbeabsichtigt beeinflusst werden konnten. Der „Lehrer“ konnte selbst bestimmen, zu welchem Zeitpunkt er das Experiment abbrechen wollte. Der Versuchsleiter verhielt sich sachlich, sein Auftreten war bestimmt, aber freundlich.

Die Versuchspersonen wurden über eine Anzeige in der Lokalzeitung von New Haven gesucht, wobei die angegebene Gage von vier US-Dollar plus 50 Cent Fahrtkosten schon für das bloße Erscheinen in Aussicht gestellt wurde. Das Experiment fand in der Regel in einem Labor der Yale-Universität statt und war in der Anzeige als unter der Leitung von Prof. Stanley Milgram stehend gekennzeichnet.

In der ersten Versuchsreihe waren 65 Prozent der Versuchspersonen bereit, den „Schüler“ mit einem elektrischen Schlag mit den maximalen 450 Volt zu „bestrafen“, allerdings empfanden viele einen starken Gewissenskonflikt. Kein „Lehrer“ brach das Experiment ab, bevor die 300-Volt-Grenze erreicht war.

In einer Reihe von Versionen des Experiments wurde die Autorität des Versuchsleiters variiert:

Wenn der Versuchsleiter der Bitte des Schülers um Abbruch nachkam und die Versuchsperson zum Abbruch des Experiments aufforderte, so folgte Letztere der Anweisung ausnahmslos.

In einer Variante des Versuchs, in der zwei Versuchsleiter den Versuch leiteten und dabei Uneinigkeit über die Fortsetzung des Experimentes vorspielten, wurde das Experiment in allen Fällen von der Versuchsperson abgebrochen.

Das Ergebnis einer Erweiterung des Experiments im Jahre 1965 war dagegen, dass die Haltung anderer „Lehrer“ einen Einfluss hat. Der Anteil der bedingungslos gehorchenden Probanden nahm stark ab (auf 10 Prozent), sobald zwei weitere vermeintliche „Lehrer“ an dem Experiment teilnahmen, die dem Versuchsleiter Widerstand entgegensetzten. Befürworteten die zwei „Lehrer“ allerdings die Fortführung des Experimentes, so folgten dem 90 Prozent der Probanden.

In einer Variation von Jerry Burger aus dem Jahr 2009 ließen sich durch eine dritte Person ohne Autorität, die ab den ersten Schreien (75 V) auf Abbruch des Experiments drängte, nur wenige Versuchspersonen zum Abbrechen bewegen, solange der Versuchsleiter auf Fortsetzung bestand.

Soziologisch ist das Experiment ein Beleg für die Wirksamkeit der Norm des Gehorsams. Über die Sozialisation erlernt das Individuum Gehorsamkeit und Unterordnung. Zunächst im familiären System, später in der Institution Schule. In beiden gesellschaftlichen Kontexten, die für die Prägung des Individuums entscheidend sind, werden Folgsamkeit und Unterordnung positiv sanktioniert. Die Gehorsamkeitsnorm ist an Institutionen und Individuen gebunden, die über einen hohen sozialen Status und/oder Autorität verfügen.

Wenn die Autorität in einen bürokratischen Prozess eingebunden ist, der die Delegation der Verantwortung auf eine Institution ermöglicht, steigt die Chance auf Gehorsam selbst bei Befehlen, die als unmoralisch und gegen das eigene Gewissen empfunden werden.

Das Experiment wurde vielfach als Beleg dafür verstanden, dass fast jeder Mensch unter bestimmten Bedingungen bereit ist, nicht seinem Gewissen zu folgen, sondern einer Autorität. Daher wird es zur Erklärung der Frage herangezogen, warum Menschen foltern oder Kriegsverbrechen begehen.

Autoritätsgläubigkeit, Gehorsam und Strafangst, Weißkittelsyndrom und die vollständige Abgabe von Verantwortung an eine übergeordnete Autorität bringen Menschen dazu, gegen ihre Überzeugungen zu handeln. Sie mögen Angst vor Ablehnung, vor Liebesentzug, vor Sympathieverlust, vor Tadel, Ungerechtigkeiten, Repressalien, Sticheleien, Schikanen haben, oder aber auch Gewissensangst vor dem Über-Ich, die sich durch Flucht, Angriff und Abwehrmechanismen bewältigen lässt, sie handeln jedenfalls nicht als freie Individuen, die unter allen Umständen die freie Wahl haben.

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