Fürst Pjotr Alexejewitsch Kropotkin

Heute möchte ich mit meinem Beitrag des Schriftstellers, Wissenschaftlers und Anarchisten Petr Kropotkin (1842-1921) gedenken, der bis heute als einer der einflussreichsten Vertreter des kommunistischen Anarchismus gilt. Obwohl dem russischen Hochadel entstammend, engagierte er sich ein Leben lang für die Befreiung der Menschheit von Unterdrückung, Ausbeutung und Ungleichheit.

Gleichzeitig möchte ich die Frage aufwerfen, ob man Begriffe – wie Anarchie – die hochgradig belastet sind durch die Geschichte, die ihnen widerfahren ist, weiter benutzen soll. Vielleicht um die Erinnerung an Inhalte wachzuhalten und um sich gegen interpretatorische Zweckentfremdungen zu wehren…

„Der Anarchismus ist eine Weltanschauung, die auf einer […] kinetischen […] Erklärung aller Naturerscheinungen beruht und die gesamte Natur umfaßt – inbegriffen das Leben der Gesellschaft. Seine Forschungsmethode ist die der exakten Naturwissenschaft, bei welchem jede wissenschaftliche Folgerung verifiziert werden muß. Sein Ziel ist die Begründung einer synthetischen Philosophie, welche die Äußerungen des gesamten Naturlebens erfaßt – mit eingeschlossen das Leben der menschlichen Gesellschaft mit ihren wirtschaftlichen, politischen und sittlichen Problemen.“

Die Frage ist: „Welche sozietären Formen gewährleisten für eine gegebene Gesellschaft und darüber hinaus für die Menschheit im allgemeinen die größte Summe an Glück und folglich auch die größte Lebenskraft? Welche Formen der Gesellschaft erlauben dieser Summe an Glück, qualitativ und quantitativ zu wachsen und sich zu entwickeln, d.h. vollständiger und allgemeiner zu werden?“

Petr Kropotkin, Anarchismus und Wissenschaft

Ein paar grundsätzliche Überlegungen vorab:

Gefährliche Ideen – im Hinblick auf die herrschenden Eliten einer Gesellschaft – sind eigentlich immer mit bestimmten Begriffen verbunden, die sich in der Geschichte erst durchgesetzt und dann etabliert haben.

In dem sich immer mehr verfeinernden Meinungsmanagement der herrschenden Eliten hat sich ein grundsätzlicher Mechanismus herausgebildet, wie mit gefährlichen Begriffen, die auf gefährliche Ideen verweisen, umzugehen ist. Dieser Mechanismus funktioniert so, dass Begriffe aus ihrem angestammten Kontext herausgelöst werden, um sie mit neuen Inhalten zu füllen.

So werden Sinnzusammenhänge oft zu unverständlichen Einzelaspekten degradiert, so wie man Ansichten von großen Bevölkerungsgruppen oft zu den verschrobenen Einzelaussagen von wenigen Spinnern umbaut. Diese Fragmentierung macht es den Menschen oft schwer den sinnvollen Kontext wieder herzustellen, besonders wenn die geballte Macht der Medien genau das Gegenteil behauptet. Wenn z.B. immer wieder behauptet wird, wir leben in der besten aller möglichen Welten aber die Verlierer dieser Welten keine Lobby haben, die anhand von Fakten die Zustände auf eine realistische Grundlage zu stellen vermag, dann entsteht eine schweigende Masse, die obendrein noch verhöhnt wird, indem ihr Schweigen oft als Zustimmung des größten Teils der Gesellschaft zu den bestehenden Verhältnisse uminterpretiert wird.

Aus Fakten bloße individuelle Meinungen zu machen, große Sinnzusammenhänge zu zerschlagen und zu unverständlichen Einzelaspekten zu verändern und Begriffe aus ihrem Kontext zu reißen um sie entweder mit neuen positiven oder negativen Kontexten aufzuladen (im ersten Fall denken wir sofort an den Bikini als Badeanzug und die Atomwaffentests der USA auf dem Bikini-Atoll in den 40er und 50er Jahren im negativen Fall denken wir bei Anarchie nicht an eine friedliche, herrschaftsfreie Gesellschaftsform sondern an die Randale des schwarzen Blocks) , das sind die Methoden eines erfolgreichen Demokratiemanagement.

Aber! Seit der Aufklärung verfügen wir über einen immer mehr verfeinerten Werkzeugkasten der ideologiekritischen Denkmethodologien und historisch erprobter Handlungsstrategien, eigentlich sollte es uns ein Leichtes sein, derartig durchsichtige und oberflächliche Strategien des Meinungs- und Empörungsmanagements zu durchschauen und dagegen an zu argumentieren. Die Frage stellt sich immer wieder, warum tun wir es nicht, wenn es so durchsichtig ist? Oder anders formuliert, wie funktionieren die Methoden uns in die politische, denkerische Apathie zu treiben und zwar nicht partiell sondern immer totaler.

Ein typisches Beispiel ist der Begriff der Anarchie, um den es heute in meinem Text gehen soll. Mit Anarchie verbinden die meisten Menschen Chaos, Gewalt, Bombenlegen, schwarzen Block, ziellose Zerstörung von Autos, Plünderung von Geschäften etc.. Ganz selten verweist jemand auf die ursprünglichen Ideen und Kontexte, in denen der Begriff originär entstanden ist und noch heute von vielen Anarchisten verstanden wird.

An diesem Beispiel erkennen wir schon ganz wichtige Mechanismen des agenda settings, der rationalen Grenzziehung und der Verwandlung von gesetzten Paradigmen in Naturkonstanten. Will sagen, die Eliten bestimmen durch subtile Mantras wie „Ordnung statt Chaos“, „Vernunft statt Unvernunft“, „Demokratie statt Anarchismus“ was im sogenannten demokratischen Diskurs überhaupt noch diskutiert werden darf und wo man sich bereits außerhalb der demokratischen Gesellschaft stellt und nicht mehr an den gesellschaftlich sinnvollen Gemeinschaften teilnimmt. Damit verweist man auf gesellschaftlich notwendige Vernunft, spricht die Menschen aber eigentlich über irrationale Aspekte an, da jeder Mensch gefühlsmäßig immer auch in Gemeinschaften eingebettet sein will und deshalb nicht gesellschaftlich unverantwortlich handeln möchte.

In mehreren meiner Texte habe ich immer wieder darauf hingewiesen, dass wir aufgrund der frühen evolutionären Entwicklung unseres Geistes fast immer eine konkret, sinnlich wahrnehmbare Ursache für Missstände benötigen, um unsere natürliche Empörung gegenüber ungerechten, Angst erzeugenden Ereignissen zu aktivieren. Die Angst, dass unsere Grundbedürfnisse nach Essen, Trinken, Wohnen bedroht sind, eignet sich hervorragend, den sogenannten Volkszorn in Gang zu bringen. Diese Angst wird z.B. nicht durch abstrakt, unsichtbar agierende Immobilienholdings auf den Cayman Islands aktiviert, sondern durch Flüchtlingsströme, die in Deutschland „einfallen“ und den deutschen Verlierern ihr begründetes Recht auf Essen und Wohnraum „rauben“. Die Immobilienspekulanten – die in Wahrheit massive strukturelle Gewalt ausüben – sind für uns unsichtbar, aber die Flüchtlinge stehen uns als „Feinde“ unmittelbar gegenüber.

Diese Umleitungsmechanismen sind für das Meinungsmanagement essentiell wichtig und sie funktionieren heute immer noch genauso gut, wie schon im Faschismus, in dem die Juden universal am Unglück der „Volksgemeinschaft“ schuld waren. Diese unmittelbar verständlichen, gut ausgebauten Narrative initiieren unsere Schranken im Kopf und führen schließlich zu einem neuronalen Framing, das wesentlich besser funktioniert, als Versuche eine „ständige Meinungsmanipulation durch Propaganda aufrechtzuerhalten. Framing lebt von der ständig sich wiederholenden Eindeutigkeit und versucht mit wütenden Attacken gegen jede Art der Zweideutigkeit, der Unbestimmtheit vorzugehen, Dogmen und ausgefeilte Ideologien würden niemals so perfekt funktionieren, wenn wir nicht von unserer Angst gesteuerten Entwicklung her, das Bedürfnis nach diesen Eindeutigkeiten hätten.

Vor diesem Hintergrund ist es sehr leicht zu verstehen, warum strukturell Juden, Sozialisten, Kommunisten und Anarchisten auf einer Ebene stehen, weil sie sich als von außen steuerbare Feindbilder perfekt instrumentalisieren lassen, obwohl sie oft in der detaillierten Realität nichts miteinander zu tun haben.

Nach dieser Analyse stellt sich nun die zentrale Frage, ob man schwer von den Herrschaftseliten belastete und umgedeutete Begriffe, weiterhin benutzen soll, sozusagen um das historische Erbe zu bewahren oder ob man diese belasteten Begriffe zugunsten der Inhalte aufgibt, um weiter an der Umsetzung und Entwicklung der Inhalte zu arbeiten, ohne in die zeitraubende Spirale zu gelangen, dass man sich immer wieder gegen die von Herrschaftseliten künstlich geschaffenen Inhalte verwahren muss.

Mit diesen Vorüberlegungen zurück zu Kropotkin

Ein Blick zurück in die Geschichte hilft immer. Machen wir einfach einen Cut, tun wir so, als ob diese Instrumentalisierungen nicht stattgefunden hätten und wir so ganz unvoreingenommen, den Blick auf einen politischen Protagonisten werfen können, der für die libertäre Utopie einer herrschaftsfreien Gesellschaft von großer Bedeutung war und ist.

Gehen wir also zurück ins Jahr 1842, dem Geburtsjahr von Fürst Pjotr Alexejewitsch Kropotkin. Kropotkin kämpfte für eine gewalt- und herrschaftsfreie Gesellschaft und galt als einer der einflussreichsten Theoretiker des kommunistischen Anarchismus. Aufgrund seiner adeligen Herkunft und seiner Bekanntheit als Anarchist des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts wurde Kropotkin auch der anarchistische Fürst genannt. Was waren eigentlich die Grundzüge seiner wissenschaftlichen, vor allem soziologischen Ideen, denen er seine ganze Lebenskraft gewidmet hat?

Bevor wir uns diesen Fragen zuwenden, sollten wir uns zunächst einmal fragen, warum Menschen, besonders dann, wenn Ihnen – wie bei Kropotkin – von Geburt eine ganz andere Biografie zugedacht wird, sich entscheiden sich für eine andere Gesellschaftsutopie ihr Leben lang einzusetzen, die ihnen in ihrer Kindheit ganz gewiss nicht vorgesungen wurde.

Nicht jeder, der Ungerechtigkeit und Elend in seiner Jugend erlebt, gelangt automatisch zu einer schöpferischen Empörung, die zweifellos die Grundbedingung für ein lange anhaltendes gesellschaftliches Engagement ist. Es ist sicher nicht nur die Grundveranlagung von Mitgefühl gegenüber geknechteten und gepeinigten Menschen, z.B. den vollkommen recht- und landlosen Bauern, von denen Kropotkins Vater mehr als 12000 „besaß“, es muss sich auch mit einer Fähigkeit verbinden, Zusammenhänge zu verstehen und eine grundsätzliche Denkfähigkeit auch gegen bestehende Dogmen und Ideologien aufrecht zu erhalten. Offen zu sein, für neue Inhalte und sich dennoch in seinen Grundüberzeugungen nicht beirren zu lassen, ist eine große Kunst, die Kropotkin beherrschte.

Das Leben Kropotkins zeigt viele Beispiele des „aufrechten Gangs“, so hat er es verstanden den rustikalen und einfachen Anarchismus eines Bakunin wissenschaftlich weiterzuentwickeln und immens zu verfeinern und damit eine gelehrte Hoffnung (im Bloch‘schen Sinne) voranzutreiben. Nur deshalb haben seine Schriften, wie „Gegenseitige Hilfe in der Tier- und Menschenwelt“ noch heute eine so große, weil weitreichende Bedeutung. Kropotkin war niemand, der eine Revolution um „jeden Preis“ vorantreiben wollte, es ging ihm immer darum, die Anzahl der Opfer möglichst klein zu halten und ein Minimum an gegenseitiger Erbitterung sicherzustellen. Politfunktionäre die Wasser predigten und Wein tranken waren ihm suspekt, ihm ging es um das tägliche Vorleben einer anderen Form von Gesellschaft, die ein freiheitliches und befreiendes Leben möglich machen sollte.

Wäre die Entwicklungsgeschichte des Menschen in seiner zweifellos ausgezeichneten Anpassungsfähigkeit an bestehende Verhältnisse, der einzige Aspekt, der für gesellschaftliche Ausformungen verantwortlich ist, dann wäre klar, dass durch die Anpassung an die herrschaftsgeprägte Kulturgeschichte des Menschen, längst eine totale Anpassung an Herrschaft und Unterdrückung der Vielen durch wenige Eliten stattgefunden hätte.

Der Mensch war immer fremden, undurchschaubaren Mächten ausgeliefert, war es zunächst die undurchdringliche Natur, der er ausgeliefert war, so waren es dann die vielen Naturgottheiten und ihre Verwalter auf Erden, die dem Menschen eine Unterordnung und eine Hierarchie aufdrückten, um später sich in der immer stärker werdenden Klassenteilung zu verselbstständigen und eine Überbaugesellschaft zu erreichen, in der die Besitzenden den Besitzlosen mit menschenverachtenden Machtmitteln klar machten, wer zu befehlen und wer zu gehorchen hatte.

Hilfe, Mitgefühl, Solidarität, Gerechtigkeit sind trotz dieser Herrschaftsgeschichte nicht durch Anpassung untergegangen, auch Kropotkin hätte sich ganz einfach einreihen können in die Gruppe der anderen Sprosse aus dem russischen Hochadel. Bei der Gestaltung seiner Biografie hätte er nicht mal unbedingt zum Militär gehen müssen, er hätte auch ein zurückgezogenes Leben als Wissenschaftler führen können, so wie tausend andere Adlige in Russland auch, aber er tat dies alles nicht!

In seinen Jahren des freiwilligen Militärdienstes in Sibirien lernte er viel über Land und Leute, über deren Gebräuche und die grundsätzliche Hilfe und Solidarität der ländlichen Bevölkerung unter einander. Auch kam er mit den Schriften des französischen Frühsozialisten Pierre-Joseph Proudhon in Berührung, die ihm den Widerspruch von Kapital und Arbeit näher brachten und ihn zu der Einsicht führten, dass vor allem das Eigentum den Konkurrenzkampf unter den Menschen beförderte und die ebenfalls naturgegebene Solidarität unter den Menschen zersetze.

„Die Jahre, die ich in Sibirien lebte, lehrten mich vieles, das ich kaum andernorts hätte lernen können. Ich begriff bald, dass es völlig unmöglich ist, etwas wirklich Nützliches für die große Masse des Volkes mithilfe der Verwaltungsmaschinerie zu leisten. Diese Illusion verlor ich ein für allemal. Aber daneben entwickelte ich nicht nur für die Menschen und den menschlichen Charakter ein Verständnis, sondern auch für die inneren Triebfedern und das Funkionieren der menschlichen Gesellschaft. Die von den namenlosen Massen geleistete schöpferische Arbeit findet so selten in den Büchern auch nur eine Erwähnung, und hier trat mir ihre große Bedeutung für die Entwicklung gesellschaftlicher Formen in all ihrer Breite vor Augen. (…) Es war im Grunde ein Anschauungsunterricht, der mich ein für allemal begreifen ließ, welchen Anteil die unbekannten Massen an allen wichtigen historischen Geschehen, selbst den kriegerischen haben; dabei entwickelte ich Auffassungen über das Verhältnis zwischen Führern und Massen, die ganz denen ähneln, die Tolstoj in seinem monumentalen Wert Krieg und Frieden zum Ausdruck bringt.“

Petr Kropotkin, Memoiren eines Revolutionärs,
Pannwitz, Stuttgart 1900, S. 280

Kropotkin hielt im Jahre 1909 in den USA politische und literaturkritische Vorlesungen zur russischen Literatur (veröffentlicht 1975 in einem kleinen Suhrkamp- Bändchen: Petr Kropotkin: Ideale und Wirklichkeit in der russischen Literatur). In diesen Vorlesungen befasste er sich u.a. ausführlich mit dem (später christlich geprägten) Anarchisten Tolstoi.

Auch seine geographischen Studien – z. B. über Gletscher und verschiedene Bodenverhältnisse – stellten seine Forschungen über die grundlegenden Lebensbedingungen der Landbevölkerung auf eine solide wissenschaftliche Basis.

Tägliche politische Auseinandersetzungen und Gefängnisaufenthalte konnten Ihn nicht von seiner Mission abbringen. Und obwohl er schließlich physisch und psychisch total erschöpft in London ankam, nach Jahren des Herumreisens im Auftrag der Anarchie, um dort die neu entstehende anarchistische Zeitschrift „Freedom“ (die bis heute erscheint) mit herauszugeben, blieb er auch in seinen täglichen Einmischungen seinen Idealen treu, auch wenn er verstand, dass die anarchistische Bewegung ein klar formuliertes, theoretisches Gerüst benötigte.

In diesen Londoner Jahren widmet er sich vor allem der Ausarbeitung seiner Theorien, die in vielen Büchern erschienen und zu Klassikern der sozialen Literatur wurden und ihm weit über anarchistische Kreise hinaus eine internationale Wirkung verschafften.

Seit diesen Londoner Jahren ist Kropotkin zum großen Modernisierer der Anarchismus geworden, dessen Theorien seiner Zeit so weit voraus waren, dass sie erst heute, hundert Jahre nach dem wirtschaftlichen und ökologischen Verfallsprozesses und dem Scheitern des Sowjetkommunismus langsam ins Bewusstsein der Menschen vorzudringen vermögen.

Was die Bedeutung von Kropotkin ausmacht, ist nicht nur sein Weitblick hinsichtlich des Miteinanders von Stadt und Land und der technischen Möglichkeiten der Kommunikation bei zukünftigen Generationen, sondern vor allem auch sein ständiges Fragen nach der Natur des Menschen und ob sie überhaupt dazu in der Lage sei, eine herrschaftsfreie Lebensform zu entwickeln, deshalb immer wieder sein Blick in die Entwicklungsgeschichte des Menschen.

Technik, Soziologie, Statistik, Verhaltensforschung, Ethik, Biologie und Geschichte sind Elemente, die Kropotkin in einen wissenschaftlich fundierten, anarchistischen Diskurs einbringt. Er hat sehr früh verstanden, dass der Staat nicht nur in seinen Gesetzen und Repressionsmechanismen Ausdruck der Interessen herrschender Eliten ist, sondern auch, dass die Menschen durch ihre Geschichte und Erziehung, diese Mechanismen längst verinnerlicht haben und den Staat praktisch in ihrem eigenen Kopf mit sich herumtragen und das eine Veränderung nur möglich ist, wenn die Menschen in die Lage versetzt werden, ein Empfinden für Solidarität und Gerechtigkeit – die auch in ihnen angelegt sind – weiter zu entwickeln, womit gleichzeitig gesagt ist, dass eine Revolution noch gar nichts bewirkt, wenn sie nur die einen durch die anderen Gesetze ersetzt und an den Bedürfnissen der einzelnen Menschen vorbeigeht.

„Kein Unterschied kann zwischen den Werken der Einzelnen gemacht werden. Sie zu messen nach den Resultaten, führt ins Absurde. Sie zu zerlegen und zu bemessen nach den Arbeitsstunden, führt uns gleichfalls ins Absurde. Er bleibt nur eins: Die Bedürfnisse über die Leistungen zu stellen.“

Petr Kropotkin, Die Eroberung des Brotes (Wohlstand für Alle),
Kampffmeyer, Berlin 1921, S. 134

Ein Kerngedanke, der den Theorien Kropotkins zugrunde liegt, ist die Verteilung der gesellschaftlichen Wertschöpfung, die nicht mehr an der sogenannten Leistung festzumachen ist. Diese Vorstellung ist für jede neoliberale Ideologie ein Graus, dass das Recht auf Leben wichtiger ist als die Leistung, die das Individuum für die Wirtschaft bringt. Ein angemessenes, bedingungsloses Grundeinkommen hätte Kropotkin sicher sehr gefallen, weil er den Wert des Menschen nicht nach seiner vorgegebenen gesellschaftlichen Leistungsfähigkeit bemessen wollte, sondern danach, dass er ein Mensch war. Jeder sollte bekommen, was er brauchte und er sollte geben, was er geben konnte.

Für Kropotkin sollte der technische Fortschritt den Menschen helfen, aus ihrem entfremdeten Leben herauszukommen und nicht dazu, den Kapitaleignern einen noch größeren Profit zu ermöglichen. Damit einher geht ein sehr positives Menschenbild, das darauf vertraut, dass Menschen, die vom Zwang zum Broterwerb befreit sind, erst zu wirklichen Menschen in einer solidarischen Gemeinschaft werden.

Schon in „Landwirtschaft, Industrie und Handwerk“ hat Kropotkin erkannt, dass die moderne Industriegesellschaft nicht nur zu einer verhängnisvollen Abhängigkeit der Besitzlosen von den Besitzenden führt, sondern auch zu einer gnadenlosen Ausbeutung der Natur durch den Menschen, zu einer gnadenlosen Entfremdung des Menschen von sich selbst und der Natur und zu einer sinnlosen, planetarischen Umverteilung von Arbeit.

Der Kreislaufgedanke, der heute in der Ökologie eine zentrale Bedeutung hat, gerade im Hinblick auf dezentrale, regionale Konzepte, war für Kropotkin von entscheidender Bedeutung. So könnte – seiner Meinung nach – alles im Kreislauf produziert werden, was regional problemlos möglich wäre und nur das würde überregional geschaffen, was unbedingt zusätzlich erforderlich ist. Damit würde der menschenverachtende, imperiale Aspekt aus der Wirtschaft ganz verschwinden, echte Autarkie wäre endlich möglich. Auch die Erpressbarkeit von Staaten untereinander würde verschwinden, diese Postwachstumsgesellschaft würde nicht nur die überdimensionierte Ausbeutung der Natur beenden, sie würde auch den Konkurrenzkampf zwischen den Völkern sinnlos machen.

Grundlage des Denkens Kropotkins war sein Versuch, der evolutionären Theorie Darwins zu widersprechen, wonach die Entwicklung der Menschheit einem Naturgesetz von Mutationen und deren Auslese entspricht. Kropotkin versuchte eine umfassende Philosophie zu entwickeln, die von einer grundsätzlichen Solidarität der Menschen untereinander geprägt war und ein naturgegebenes Gefühl von Gerechtigkeit zur Basis hatte, damit wollte er jeder Naturgesetzlichkeit, wie sie im Sozialdarwinismus sich entwickelt hatte, widersprechen. Er wollte mit jeder Rechtfertigung der Herrschaft des Menschen über den Menschen aufräumen und das Primat auf Hilfe und Solidarität der Menschen miteinander im wissenschaftlichen Diskurs verankern.

Kropotkin war kein heilloser Utopist, der den technischen Fortschritt unkritisch glorifizierte, aber er hat durchaus erkannt, dass der technische Fortschritt, wenn er den Kapitaleignern aus den Händen genommen würde, dafür sorgen könnte, dass sich die Menschheit von unwürdigen, entfremdenden Arbeitsbedingungen befreien könnte. Voraussetzung wäre nur die Verfügungsgewalt über die Produktionsmittel, so dass die Kapitaleigner nicht mehr den steigenden Mehrwert in Profit verwandeln könnten, sondern dieser steigende Mehrwert, den Menschen insgesamt zu Gute komme. Das war die Idee des kommunistischen Anarchismus, als deren Begründer Kropotkin ja gilt.

Die steigende Produktivkraftentwicklung der Großindustrie (nicht im kleinen Mittelstand) in eine Verkürzung der Lebensarbeitszeit der abhängig Beschäftigten zu stecken, statt in die Profitmaximierung von Wenigen war später auch eine durch und durch sinnvolle Zielsetzung der Gewerkschaften Ende der 70er Jahre. Damals war noch nicht von der Industrie 4.0 die Rede, aber es gab jede Menge weitblickende Menschen, die schon die Entwicklungen durch Automation und Rationalisierung voraussahen.

Aber wie es immer mit den Rufern in der Wüste ist, niemand will sie anhören. Dann kam gleichzeitig die neoliberale Unterwanderung der Gesellschaft mit deren Ideologie, die aus zukunftssicheren prekäre Arbeitsverhältnisse schuf und durch diese massive Veränderung, die deutlich hinter den Möglichkeiten einer neuen Wirtschaftsweise zurückblieb, wurde im Laufe der 90er Jahre und dem ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts gar nicht mehr von den Möglichkeiten der neuen Produktionsweisen für die abhängig Beschäftigten gesprochen, das Thema kam schlichtweg in keiner Agenda mehr vor.

Zurück zu Kropotkin, dem „Apostel der Anarchie“, dem „Anarchisten zum Knuddeln“, wie manche ihn liebevoll nannten und heute noch nennen, war letztlich ein Menschenfreund, der glaubte durch regionales Vorleben alternativer Gesellschaftsmodell die Menschen zu einem Umdenken und zu anderen Wirtschaftsweisen zu befähigen.

Die Zeit nach der Jahrhundertwende vom 19. zum 20. Jahrhundert war mit großen Hoffnungen verbunden, der Internationalismus der Arbeiterbewegung ging von der Utopie aus, dass die Menschen in Frieden und Wohlstand leben können, wenn sie ihre Ketten abwerfen und den Herrschenden die Gefolgschaft aufkündigen würden. Vor dem ersten Weltkrieg war die Zahl derer, die den Kriegsdienst verweigern und die Rüstungsindustrie bekämpfen wollten, nicht gering, trotzdem kam es zu keiner einheitlichen Bewegung, weil denkende Menschen, die sich für Sozialismus, Kommunismus oder Anarchismus begeisterten, einfach nicht auf eine gemeinsame Grundlinie einigen konnten und heute noch nicht können.

Mit der russischen Revolution im Februar 1917 hoffte Kropotkin, der nach 41 Jahren Exil in seine Heimat zurückkehren konnte, das nun ein grundsätzliches Ende alle Kriege und eine soziale Revolution mit einem föderalen und radikaldemokratischen Gesellschaftsmodell beginnen könne. Die Schlagworte waren regionale Autonomie und „Alle Macht den Räten“, aber mit der Oktoberrevolution 1917 und der Machtübernahme der Bolschewiki verschwanden ganz schnell alle zivilgesellschaftlichen Hoffnungen der Partizipation und es begann die Zeit der Einparteiendiktatur und die Herrschaft der Parteifunktionäre.

Apparatschiks, Revolutionskader und tumbe Parteifunktionäre erstickten jede Art von Eigeninitiative des „befreiten“ Volks im Keim. Kropotkin hatte genug Lebenserfahrung und Denkfähigkeit, dass er sehr schnell den verhängnisvollen Weg in den Zentralismus erkannte und dass seine Hoffnungen auf eine Gesellschaft von frei föderierten Gemeinden mit einem blühenden Genossenschaftswesen sich nicht erfüllen würden.

„Der Kommunismus ist imstande, alle Formen der Freiheit oder der Unterdrückung anzunehmen – was andre Einrichtungen nicht können. Er kann ein Kloster zeitigen, in dem alle blind ihrem Prior gehorchen; er kann eine absolut freie Verbindung sein, die dem einzelnen seine ganze Freiheit läßt – eine Verbindung, die nur so lange währt, wie die Verbündeten zusammenbleiben wollen, die niemandem einen Zwang auferlegt, sondern im Gegenteil eifersüchtig dazwischentreten will, wenn die Freiheit des Individuums bedroht wird, die sie vergrößern und nach allen Richtungen erweitern will. Er kann regierungsfreundlich sein (in welchen Fall die Gemeinde bald zugrunde geht), und er kann anarchistisch sein. Der Staat dagegen kann das nicht. Er ist autoritativ, oder er hört auf, Staat zu sein.

Der Kommunismus sichert besser als jede andere Gruppierungsform die wirtschaftliche Freiheit, da er den Wohlstand und selbst den Luxus garantieren kann, wenn er vom Menschen nur einige Arbeitsstunden täglich verlangt, anstatt seinen ganzen Tag. Aber, dem Menschen 10 oder 11 Mußestunden von den 16, die wir täglich bewußt leben (8 Stunden für den Schlaf), verschaffen, heißt, die Freiheit des Individuums bis zu einem Grade erweitern, der das Ideal der Menschheit seit Jahrtausenden ist. Heute kann das geschehen. In einer kommunistischen Gesellschaft könnte der Mensch über wenigstens 10 Freistunden verfügen. Und das ist schon die Befreiung von der drückendsten Knechtschaft, die auf dem Menschen lastet. Es ist eine Erweiterung der Freiheit.

Alle als gleichstehend anzuerkennen und auf die Herrschaft des Menschen über den Menschen zu verzichten, heißt wieder, die Freiheit des Individuums bis zu einem Grade vergrößern, die keine andere Gruppierungsform auch nur in ihren Träumen zugelassen hat. Sie wird nur möglich, wenn der erste Schritt getan ist: wenn der Mensch seine Existenz gesichert hat und nicht genötigt ist, seine Kraft und seine Intelligenz demjenigen zu verkaufen, der ihm die Gnade zuteil werden lassen will, ihn auszubeuten. […]

Die grundlegende Staatsidee […], daß eine Gesellschaft ohne Henkersknechte und Richter unmöglich ist, bleibt eine beständige Bedrohung für jede Freiheit, und nicht die dem Kommunismus zugrundeliegende Idee, welche die ist zu verbrauchen und zu produzieren, ohne den genauen Anteil eines jeden abzuwiegen. Diese ist im Gegenteil eine Idee der Freiheit, der Befreiung.

Wir können also die folgenden Schlüsse ziehen:

Bisher mißglückten die kommunistischen Versuche:
weil sie sich auf eine gewisse religiöse Schwärmerei gründeten, anstatt im Kommunismus einfach einen Modus für den wirtschaftlichen Verbrauch und die wirtschaftliche Produktion zu sehen;
weil sie sich von der Gesellschaft isolierten;
weil sie mit Autoritätsgeist angefüllt waren;
weil sie allein standen, anstatt Bündnisse zu schließen;
weil sie von den Gründern eine so große Arbeitsmenge forderten, daß ihnen keine Mußestunden blieben;
weil sie die patriarchalische, regierungstreue Familie nachahmten, anstatt sich im Gegenteil als Ziel die möglichst vollständige Befreiung des Individuums zu setzen. […]

Mit dem Anarchismus als Ziel und als Mittel wird der Kommunismus möglich. Ohne ihn würde er mit Notwendigkeit die Knechtschaft bedeuten, und – als solche – könnte er nicht bestehen.“

Petr Kropotkin, Kommunismus und Anarchismus,
Abraham Melzer Verlag, S. 13-16

Mehrmals 1918 und 1919 versuchte Kropotkin sich qua seines Weltrufs nochmals in die Entwicklungen einzumischen, aber alle Bemühungen scheiterten, auch ein persönliches Gespräch mit Lenin 1919 förderte nur die unüberbrückbaren Differenzen zu Tage, so dass er sich schließlich resigniert in ein kleines Dorf namens Dimitrov nahe Moskaus zurückzog und nur noch an seiner „Ethik“ arbeitete, von der er allerdings nur den ersten Band noch fertigstellen konnte, weil er am 8. Februar 1921 starb.

Dem Trauerzug durch die Straßen Moskaus schlossen sich 100.000 Menschen an, so dass es zu einer mächtigen aber auch letzten Demonstration des Anarchismus in der neu entstandenen Sowjetunion kam.

Hier noch ein paar Buchempfehlungen zum Schluss:
Die Eroberung des Brotes (1892)

In Die Eroberung des Brotes umreißt Kropotkin seine Vorstellungen einer libertären Gesellschaft. Ausgehend von der Kritik der Verhältnisse am Ende des 19. Jahrhunderts entwickelt er die Utopie einer Gesellschaft, in der andere Eigentums- und Arbeitsverhältnisse existieren als im Kapitalismus. Durch die Neugestaltung sollte eine Aufhebung der Arbeitsteilung auf volkswirtschaftlicher und internationaler Basis stattfinden. Kropotkin kritisierte nicht nur die Trennung von Hand- und Kopfarbeit, sondern auch die Zerstückelung des Wissens über die Gesamtheit der Produktion. Dazu gehörte für ihn die Dezentralisierung der Industrie.

Ein zentraler Punkt bei Kropotkin ist die Ablehnung jedwedes Lohnsystems. Kropotkins Werk ist insofern nicht nur ein „Klassiker“, der einen grundlegenden Beitrag zur Theorie des Anarchismus liefert, sondern enthält auch für aktuelle Debatten noch Denkanstöße. Die Eroberung des Brotes gehört bis heute zu den wichtigsten Schriften des kommunistischen Anarchismus.

Landwirtschaft, Industrie und Handwerk (1899)

Mit dem Buch „Landwirtschaft, Industrie und Handwerk“ wollte Kropotkin zeigen, wie sich mit den technischen Mitteln seiner Zeit nicht nur eine effektivere, sondern auch eine menschlichere Produktion realisieren lassen würde.  Hier kommt Kropotkin zu der These der verhängnisvollen Abhängigkeiten der Menschen in den großen Industriezentren. Er analysiert die Trennung von Mensch und Natur, die Ausbeutung des Planeten, die Produktion von unsinnigen Produkten, die unsinnige Mengen an Ressourcen verschwenden und an den unsinnigsten Orten produzieren, nur aus Gründen des kurzfristigen Gewinnstrebens. Die Konsequenz, die sich daraus ergibt, ist die Entwicklung des Menschen zu einer apathischen, stumpfsinnigen Arbeitsmaschine. Ähnlich wie es auch den Vorstellungen von William Morris entspricht, hofft er auf kleine, überschaubare, regionale Manufakturen mit möglichst geschlossenen Kreisläufen, von der Natur nehmen und der Natur wieder zurückgeben was ihr gebührt, ist für ihn die richtige Produktionsweise. Eine Absage an große industrielle Produktionsweisen und Megakonzerne!

Gegenseitige Hilfe in der Tier- und Menschenwelt (1902)

Die Gegenseitige Hilfe in der Tier- und Menschenwelt ist nicht nur ein Klassiker der anarchistischen Literatur, sondern kann auch als früher Vorläufer soziobiologischen Denkens gelten. Geschrieben als Antwort auf zahlreiche Publikationen, die Darwins Evolutionstheorie zu einem menschenverachtenden Sozialdarwinismus verkürzen wollten, argumentiert Kropotkin, dass in Natur und Gesellschaft keineswegs nur ein Kampf aller gegen alle stattfindet, sondern dass ebenso ein Prinzip obwaltet, das er „gegenseitige Hilfe“ nennt. Er kommt zu dem Schluss, dass jene Lebewesen erfolgreicher überleben, die dieses Prinzip umsetzen. Kropotkin illustriert seine Thesen nicht nur auf gelehrte Weise anhand von Quellen aus Biologie, Geschichts- oder Kulturwissenschaft der damaligen Zeit, sondern fügt auch eigene Beobachtungen an, die er auf seinen zahlreichen Reisen durch Asien und Europa gemacht hat.

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