„Wo immer etwas fehlerhaft ist, ist es zu groß“

Gedanken zum „Anti-Leviathan“ und zum Lebenswerk Leopold Kohrs an einem verregneten 2. Advent.

Millionen Menschen weltweit singen es jedes Jahr, in vielen Dutzend Sprachen. Und weltweit wissen nur wenige, woher es kommt. Leopold Kohr verwandelte ab 1939 das auch in Nordamerika sehr populäre Weihnachtslied zur publizistischen Waffe gegen jene, die die Republik Österreich im Frühling 1938 beim „Anschluss“ ausgelöscht hatten.

Kohr nutzte die Entstehungsgeschichte von „Stille Nacht“, um den Amerikanern und Kanadiern in Dutzenden Zeitungsartikeln alljährlich Österreichs eigenständige Kulturgeschichte zu präsentieren. Die Illustratorin Lillian Neuner zeichnete für Kohr das idyllisch verschneite Oberndorf im Vordergrund, weiter hinten den Mönchsberg mit der Festung Hohensalzburg. Im Hintergrund leuchten die Alpen und über der Idylle die Sterne der Heiligen Nacht. Der Text suggeriert, sein Autor sei tief religiös. Wer Kohr gut kannte, muss spätestens an dieser Stelle schmunzeln. Im katholischen oder protestantischen Sinn tief gläubig war Kohr nicht. Dennoch verpackte er 1941 viel Wehmut in seine Zeilen: „Oberndorf is only a small village in Austria. But it is my village, and this is why I often like to think of it. […] In the distance rise the mighty chains of the Alps to their majestic heights. […] And the melody will float out again from the village which created it to the world to which it belongs. “Die Menschen von Oberndorf in Österreich seien stolz, schrieb Kohr, dass ihre Heimat auserwählt worden sei, die Menschheit reich zu beschenken. Mit diesem Lied, das so einfach und schön sei und die Herzen berühre. Weder Beethoven noch Schubert hätten so etwas schreiben können. Es sei ein Lied, das nur in einem Dorf habe entstehen können, geschaffen aus tiefem Glauben und dem Trost, der in solchen Gegenden spürbar ist. „Silent Night“, die wunderbare Hymne der Christenheit, entstanden in Österreich: „Then, wherever I am, in Paris, in London, in New York, in Toronto or in Los Angeles, everbody sings Silent Night.“

Der Philosoph Leopold Kohr (1909–1994) ist der Philosoph des menschlichen Maßes. „Alles ist Gift. Ausschlaggebend ist nur die Dosis.“ – Dieser von Kohr oft zitierte Spruch von Paracelsus ist grundlegend für seine „Philosophie der Größe“. Wenn wir unseren Heimatplaneten betrachten und seine größten Probleme bedenken, dann haben diese Probleme immer etwas mit angemessenen und unangemessenen Proportionen, die kein menschliches Maß mehr kennen,  zu tun. Nur wer genau und damit im Detail und komplex zugleich denkt, kann den Boden für den Widerstand gegen die meinungsmanipulierende Finanzmafia bereiten. Die Linke, die es als Hausherr des kritisch-reflektierenden Denkens eigentlich besser wissen müsste, hat sich in den letzten Jahrzehnten die Themen immer mehr vom Meinungsmanagement der internationalen Großkonzerne und Finanzoligarchen diktieren lassen. Die internationalen „Signale“ zu hören, um zum „letzten Gefecht“ aufzubrechen, haben absolut nichts mit den Vorstellungen der globalisierten Wirtschaft der internationalen Finanzeliten zu tun, trotzdem verhelfen die willfährigen Tuis, die als linke Intellektuelle scheinbar vom Stallgeruch des internationalen Finanzkapitals frei zu  sein scheinen, mit ihrem unkritischen, undifferenzierten Gerede vom globalisierten Menschen, gerade der Ideologie in den Sattel, die sie eigentlich bekämpfen sollten.

Im 19. Jahrhundert, in dem die Idee des „Multikulti“ von ihrem Ursprung her zu verorten ist, kommen zwei Aspekte zusammen: die Schmach der international gleichen Lohnarbeit mitsamt der Mehrwert-Effekte auf der einen Seite und auf der anderen Seite die vom Kolonialismus begünstigte Reisetätigkeit der weltweit umherreisenden Intellektuellen, die das Beste und Gleiche jeder Kultur in Vitrinen einer globalen Kulturgeschichte des Menschen sammeln und eklektisch zu einer wunderbaren, kaleidoskopartigen Menschheitsfamilie zusammenbauen, die sich selbst am 10. Dezember 1948 die Charta der Internationalen Menschenrechte gab.

Der Artikel 1 der Menschenrechte: „Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren“ ist in der Tat ein Grundsatz, der für alle Menschen gleichermaßen gilt und nicht für einige mehr und für andere weniger. Trotzdem verstoßen die Machteliten seit 1948 z. B. fortwährend  gegen diesen Artikel oder den Artikel 4, der die Sklaverei in allen ihren Formen verbietet, indem sie Zinsknechtschaft und Lohnarbeit als politisch individuell wirksame Peitsche der Unterdrückung einsetzen. Daraus folgt, dass der Internationalismus kein positiv, sondern ein negativ besetzter Wert der internationalen Unterdrückung und Verelendung ist und der Widerstand sich aus dem kleinen, Vereinzelten ergeben muss, das sich freilich durch die modernen technischen Möglichkeiten vernetzen kann.

Bodenständigkeit und menschliches Maß sind ein revolutionäres Gut, das man nicht den Feinden des Humanismus überlassen darf, indem man diese Werte z. B. als Ideologeme von Neonazis hinnimmt und damit akzeptiert und sich mit aller Macht davon abgrenzt, indem man Multikulti, Internationalismus als alternativlose Ideologie propagiert und damit zum willfährigen Handlanger der internationalen, vernetzten Finanzeliten wird. Darüber hinaus prägte Kohr in seiner Geschwindigkeitstheorie den Slogan „slow is beautiful“, weil in der Langsamkeit auch die Massenwirkung abnimmt und die Vermarktbarkeit im industriellen Prozess deutlich geringer – also subversiver wird. Wir können aber auch an die Massenaufmärsche der Nazis und an den Slogan „Flink wie Windhunde“ denken. Auch Stadtarchitektur kann als Bild für die Gedanken Leopold Kohrs genommen werden: Während die Straßen einer Stadt zu normalen Tageszeiten völlig ausreichen, steht in den Stoßzeiten der Verkehr; während die Theater- und Kinoausgänge am Ende der Vorstellung völlig ausreichen, sind sie im Falle einer Panik zu eng.

Leopold Kohrs Philosophie betont die Würde und Vernunft des Individuums, befähigt, kreativ zu sein und seinen Willen zu gestalten. Eine Masse aus Individuen aber zerstört die Freiheit und verhält sich nicht wie vernünftige Wesen, sondern wie leblose Teilchen, die statistischen Gesetzen gehorchen. Begibt sich der freie Mensch in die Masse, degeneriert er vom Kulturwesen zum Teil einer physikalischen Gesetzen unterliegenden Einheit.

Über viele Jahre hatte ich mehrmals im Jahr in Oberndorf bei Salzburg geschäftlich zu tun, und dieser Grenzort an der Salzach mit Laufen auf der deutschen und Oberndorf auf der österreichischen Seite war mir als Bild eines Denkens auf der Grenze (Tillich) immer ein emotional total positiv besetzter Ort. In diesem Oberndorf wurde 1818 erstmals das Weihnachtslied „Stille Nacht, heilige Nacht“ in der Kapelle aufgeführt. In Oberndorf tobte ein Krieg zwischen Flussschiffern und reichen Kaufleuten. Zum Ärger der Kirchenoberen schlug sich Pfarrer Joseph Mohr auf die Seite der entrechteten Schiffer. Am Ende siegte aber die Vernunft und es herrschte wieder Frieden. Mohr komponierte mit dem Dorfschullehrer Gruber das besinnliche Lied, das gleichermaßen Ausdruck des Widerstands und eines humanistisch begründeten Friedens war und geblieben ist.

In diesem Oberndorf wurde Leopold Kohr 1909 geboren und verbrachte dort auch seine Kindheit. Die Eindrücke des Lebens in Oberndorf ließen ihn trotz seiner Weltreisen nie mehr los. Gemeinsam mit Erfahrungen in anderen Regionen der Erde bestärkten sie ihn in der Entwicklung seiner Theorie der kleinen Einheiten. Leopold Kohr wurde Philosoph und Ökonom und er vertrat Zeit seines Lebens eben die Theorie, dass kleine Einheiten in Politik, Wirtschaft und Kultur menschlichem Größenwahn in Form von Strukturen und Gebilden weit überlegen sind. Bürokratischer Zentralismus als verdecktes Unterwerfungswerkzeug, riesige Wirtschaftseinheiten, in denen weniger als zehn Firmen den gesamten Planeten beherrschen, sind nur durch partisanenähnliche Kleinstrukturen – als Sand im Getriebe – zu überwinden, nicht jedoch indem sich die intellektuelle Linke Globalisierungsideologeme auf die Fahnen schreibt, die gerade das unterstützen, was man bekämpfen sollte. Beispiel: Wer heute noch die „freie Republik Wendland“ ausrufen würde, müsste sich darauf gefasst machen, als Mob und rechtsradikaler Neonazi beschimpft zu werden, der die Blut und Boden-Ideologie der Altnazis wieder beleben wolle. So ändern sich die Zeiten und so funktioniert das unsichtbare Meinungsmanagement der Machteliten.

„Was nicht in Oberndorf passiert, das passiert nirgends auf der Welt. Denn Oberndorf ist überall. Es gab dort Hochzeiten, Taufen, Firmungen, es gab Streit, sogar einen Mord, es wurde geschmuggelt […] das Sündige und das Heilige gehören im Leben zusammen.“

Für Leopold Kohr, den Schöpfer des international bekannten Slogans „Small is beautiful“ war immer klar, dass ein ökologischer, sozialer, kultureller und ökonomischer Wandel nur von den Dörfern und Regionen ausgehen könne. Dafür erhielt Kohr 1986 in Schweden den Alternativen Nobelpreis. Sein Engagement für die Region Salzburg brachte ihn auch ins Bergdorf Neukirchen am Großvenediger, wo eine Akademie nach ihm benannt wurde. Leopold Kohr war zugleich Weltbürger. Bereits als Student unternahm er Reisen durch ganz Europa. Als Reporter im Spanischen Bürgerkrieg berichtete er für österreichische und Schweizer Zeitungen. 1938 flüchtete Kohr wegen seiner politischen Einstellung vor den Nationalsozialisten nach New York und arbeitete dann in einem Goldbergwerk in Kanada. Sein erster Job als Wissenschaftler führte ihn nach Washington. Danach erhielt Kohr einen Lehrstuhl an der Rutgers University in New Jersey. Später folgte eine Professur auf der Karibikinsel Puerto Rico. Außerdem lehrte er in Wales, wo er in Aberystwyth die walisische Unabhängigkeitsbewegung gegen die Zentralregierung in London unterstützte.

„Da der Weg zur Größe kein Ende hat, und da die Einheitsfanatiker kein Ding finden, das sich nicht noch vergrößern ließe, können sie nirgends landen. Außer in der Irrenanstalt der Unendlichkeit.“

Es verwundert nicht, dass 2016 der Leopold-Kohr-Preis an den deutschen Volkswirt und Wachstumskritiker Prof. Dr. Niko Paech vergeben wurde, der in seiner Rede forderte, die Welt vom „Wohlstandsmüll“ zu „entrümpeln“. Hat man sich erst mal auf den Weg gemacht, seine materiellen Ansprüche radikal zu reduzieren, stellt man bald fest, dass dies nicht Mangel, sondern Gewinn bedeutet. „Postwachstumsökonomie“ bedeutet ein Wirtschaftssystem, das nicht auf Wachstum, sondern auf einen Wandel des Lebensstils, der Versorgung und Produktion ausgerichtet ist. Dieses Wirtschaftssystem würde deutlich weniger Ressourcen verbrauchen, wäre insgesamt stabiler und ökologisch verträglicher. Es würde außerdem viele Menschen entlasten, denen „im Hamsterrad der materiellen Selbstversorgung schon ganz schwindlig wird“.

Als Leopold Kohrs Freund, Fritz Schumacher, 1973 Kohrs Gedanken „Small is beautiful“ zum populären Schlagwort und Buchtitel machte, zeigte sich schon bald die Gefahr, dass die Putzigkeit des Slogans der Ernsthaftigkeit des dahinter waltenden Gedankenwerks im Wege stand. Dabei ist gerade das Kleine auch zugleich das Subversive, das sich dem Mainstream und dem großen Markt entzieht und eigene Wege geht, denn alles, „was zu groß wird, vernichtet die Natur“. Diese Einsicht hat Leopold Kohr auf die Staats- und Wirtschaftssysteme übertragen. Die aktuellen Entwicklungen geben ihm Recht: Weltreiche sind zerfallen, Ideologien auf dem Scherbenhaufen der Geschichte gelandet. „Nicht die Unterentwickelten sind das Problem, sondern die Überentwickelten, die am Rand des Abgrunds stehen, es aber noch nicht wahrhaben.“ In kleineren Einheiten bleibt alles überschaubar, die Manipulierbarkeit der Massen ist hier kaum möglich und damit werden die größten Probleme schon im Keim erstickt. Großmächte und Staaten-Zusammenschlüsse sind das Elend der Zeit – mit Kampf um Energievorräte, Verkehrs- und Transportproblemen, Rüstungswahn und Angst, aber auch mit dem Potenzial, alles vernichtende Kriege zu führen. Kohrs Gegenrezept gegen all dies: „disunion now!“, Entflechtung jetzt, ein Europa der Regionen, in der jeder groß genug ist, für sich selbst zu sorgen, aber so klein, dass er andere nicht beherrschen kann.

In Zeiten der Excellenz-Cluster in einer total verwalteten Welt muss man jemanden wie Leopold Kohr als dem Erfinder des Begriffs „akademisches Wirtshaus“, mit dem ein herrschaftsfreier, akademischer Raum gemeint ist, in dem sich nicht Tuis, sondern kritisch denkende Menschen treffen, die eine andere Welt in Gang setzen wollen, als einen Visionär neu entdecken und seine Ideen in die Tat umsetzen. Im Nachruf auf seinen Freund Fritz Schuhmacher schrieb Kohr 1977, Schumacher sei ein Retter gewesen, der an Bord eines großen Schiffes oberhalb der Niagarafälle die Menschen hilflos ihrem Ende entgegentreiben sah. Schumacher habe klargemacht, dass dieser unlenkbare Kahn nicht mehr repariert werden könne. Die einzige Chance zum Überleben seien kleine Rettungsboote. Man müsse diese endlich zu Wasser lassen, um dem Absturz zu entgehen. Die Rettungsboote waren für Kohr die Metapher für die von Schumacher propagierte „mittlere Technologie“. Schuhmacher seinerseits hatte zu Lebzeiten seinen Freund Leopold Kohr als den Begründer einer „postmodernen Ökonomie“ bezeichnet, so sehr war er von den Gedanken des Lehrers und Freundes angetan.

Am 15. März 1994 wurde Leopold Kohr auf dem Friedhof in Oberndorf beigesetzt – ein langes und wahrscheinlich in Zukunft noch sehr einflussreiches Leben begann in Oberndorf und endete auch dort.

Wenn wir sein Erbe wachhalten wollen, dann sollten wir vorurteilsfrei über die Losung des Anarchisten Leopold Kohr nachdenken: „Zerstückelt die Großmächte!“ Wir sollten allerdings nicht den Fehler machen und diese Kampfansage jedem, ob er es hören will oder nicht, unversöhnlich entgegenschleudern, besser ist es, wir machen es so, wie Leopold Kohr selbst empfohlen hat: „Ich versuche immer, die Leute zum Lachen zu bringen. Das funktioniert sogar in Mexiko, wo die Leute einen sehr starken Nationalstolz besitzen. Wenn ich am Anfang meines Vortrages gesagt hätte: Zerstört den Zentralstaat Mexiko! Dann hätten sie mich wahrscheinlich weggejagt. So erzählte ich positive Dinge von den vielen Volksgruppen, die in Mexiko leben. Es gibt ja auch viele Indianer dort, die bis heute unterdrückt werden. Dann kam ich auf die riesige Bürokratie, die Steuern, die ganzen Waffenkäufe der Zentralregierung zu sprechen. Daneben wurde der Lebensstandard der Armen nicht verbessert. Weil in den zentralen Apparaten niemand Interesse daran hat. Sie stimmten mir zu. Dann wagte ich ein paar harmlose Witze. Zuhörer lachten. Ich lachte. Dadurch verstanden sie mich dann auch. Zum Schluss waren viele überzeugt, die Zukunft Mexikos gehöre den Volksgruppen, den Provinzen und den einfachen Leuten, die sich nicht mehr länger von der Zentralregierung bevormunden lassen.“

Leopold Kohr rehabilitierte den Anarchismus als politische Theorie, als Utopie und damit als Wertmaßstab, der gefeit ist vor jeder Form von Missbrauch: „Frei von Ideologien! Das ist Anarchismus! Es ist die edelste der Philosophien.“

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