Raus aus der Gefangenschaft der Merkel-Politik!

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Von Antje Vollmer und Peter Brandt
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Es gibt für die SPD wohl keinen direkten Weg ins Kanzleramt: Wer Mehrheiten für eine linke Politik erreichen will, muss dem Mainstream etwas entgegensetzen – statt ihm hinterherzulaufen. Ein Appell.

Die Ergebnisse der drei letzten Landtagswahlen in Deutschland sind so klar wie nüchtern zu interpretieren. Auch der größte Optimist begreift: Es führt derzeit kein direkter Weg eines Sozialdemokraten ins Kanzleramt – und kein Weg der politischen Linken zurück zu gesellschaftlichen Mehrheiten.

Innerhalb der SPD gab es zwar einen kurzen kostbaren Moment lang die Illusion einer veränderten Lage, sie beruhte jedoch auf einem Missverständnis: Die Euphorie bei der Ausrufung von Martin Schulz zum Kanzlerkandidaten war leichtfertig als lang ersehnte Übereinstimmung mit der Politik der SPD gedeutet worden – sie war aber als Aufforderung gemeint. Viele Menschen wollten wirklich, dass es „ganz anders“ wird. Sie wollten einen „deutschen“ Bernie Sanders.

Es war das Aufflackern einer Hoffnung, die ewige große Koalition könnte endlich ein Ende haben. Es ging wahrlich nicht um den kleinsten Nenner, dass ein Martin Schulz eine Angela Merkel an der Spitze des immer gleichen Politikmodells ersetzt, das nun seit Jahren als alternativlos beweihräuchert wird.

Wer das erkennt, begreift zugleich, dass er einen anderen, risikoreicheren Weg wählen muss, um in Zukunft gesellschaftliche und dann auch parlamentarische Mehrheiten zu gewinnen, und zwar diametral entgegengesetzt zum derzeit vorherrschenden Mainstream. Er weiß auch, dass er die Angst verlieren muss, Angela Merkel im Palast ihrer unantastbaren Selbstbezüglichkeit direkt anzugreifen. Er muss sich aus der babylonischen Gefangenschaft der ungekrönten Herrscherin Europas und ihres Lordsiegelbewahrers Schäuble endlich selbst befreien.

Das Wort „Reform“ wurde zum europäischen Alptraum

Und dafür gibt es gute, vor allem außenpolitische Gründe: Von den hiesigen Leitmedien fast unbemerkt, hat sich das Bild der Deutschen in Europa in der Ära Merkel besorgniserregend verschlechtert. Je selbstbewusster die Bundesregierung in Brüssel dominiert, umso mehr ist sie verhasst. Das gilt nicht nur für Griechenland, Spanien und England, selbst in Frankreich war Abgrenzung von Deutschland für alle Präsidentschaftskandidaten wahlentscheidend. Der politische Kredit, den Jahrzehnte einer auf gegenseitigem Respekt, nationaler Selbstbescheidung und ökonomischem Interessenausgleich beruhenden deutschen Europapolitik bis zur Jahrtausendwende angehäuft hatte, ist aufgezehrt.

Die schwarze Pädagogik, mit der Wolfgang Schäuble seine Zuchtmeisterrolle vertritt, wirkt bigott. Die schnelle Taktzahl von Telefonaten der Kanzlerin, Speeddatings mit Staatenlenkern aller Art und Tätscheleien vor Kameras wirken ohne Kompass.

Was ist die Bilanz? Die mächtigste Politikerin des Kontinents hat den Begriff „Reformen“ zum Albtraum für die Völker Europas gemacht. Sie ist damit im Kern ihrer Mission gescheitert. Sie hat mit den Sondervorteilen der deutschen Wirtschafts- und Finanzpolitik ein Regime der Extraprofite installiert, unter dem alle Volkswirtschaften des europäischen Südens ächzen.

Noch kein Ökonom hat erklären können, wie ein System auf Dauer funktionieren kann, das auf hohem Exportüberschuss eines Landes beruht, ohne faire Handelschancen oder Finanzausgleich für jene Partner und Nachbarn anzubieten, mit denen es den weitaus größten Teil des Außenhandels betreibt. Diese Methode des einseitigen Vorteils ist kurzsichtig, ungerecht und wird sich in absehbarer Zeit gegen den Nutznießer wenden.

Zur Kennzeichnung der Ära Merkel gehören die wachsenden Fliehkräfte innerhalb der EU. Das Ausscheiden Großbritanniens hat zwar nicht hauptsächlich sie verschuldet, mit dem Versuch, ihre Flüchtlingspolitik ganz Europa ungefragt und unabgestimmt überzustülpen, hat sie dem aber ebenso zugearbeitet wie dem Abrücken aller früheren Ostblockstaaten vom bisherigen Konsens Europas. Diese jungen Demokratien fühlen sich von so viel moralischer Überwältigung schlichtweg überfordert.

Die europäische Linke ist in eine Falle getappt

Es scheint, als ob hier die europäische Gesamtlinke in eine Falle gelaufen ist. Die aktionistische Flüchtlingspolitik der Kanzlerin hat europaweit den rechten Parteien Wähler zugetrieben, Wähler, die eigentlich von der Linken zu verstehen und zu integrieren wären. Dies Dilemma kann die Linke nur lösen, wenn sie ihren Begriff von internationaler Solidarität klärt. Wer die Kriege und die geopolitischen Machtkämpfe im Nahen und Mittleren Osten nicht als Ursache der Destabilisierung benennt, betreibt zwar verdienstvolle Sozialarbeit, ist aber fern von einer politischen Antwort auf die Migrationskrise.

Zu den Negativbilanzen in der Merkel-Außenpolitik gehört die Tatsache, dass das Verhältnis zu Russland inzwischen vollständig zerrüttet ist. Seit den Zeiten Willy Brandts und Egon Bahrs galt die Entspannungspolitik auch für Helmut Kohl und Hans-Dietrich Genscher bis zu Gerhard Schröder als konstante Grundbedingung für ein Konzept gemeinsamer Friedens- und Sicherheitspolitik in Europa. Was sich heute dagegen „menschenrechtsgestützte Außenpolitik“ nennt, ist in Wahrheit eine moralgestützte Interventions- und Sanktionspolitik mit stark irrationalen Anklängen von Russophobie. Dass eine solche Politik von dem Land, das vor einem dreiviertel Jahrhundert Opfer eines deutschen Angriffs- und Vernichtungskrieges war und dennoch die entscheidende Weichenstellung zur deutschen Wiedervereinigung geöffnet hat, als zutiefst ungerecht empfunden wird, sollte man zumindest in Erwägung ziehen.

Wem nützt eigentlich diese permanente ressentimentgeladene Konfrontation? Nur den Falken auf allen Seiten! Rein ökonomisch sind schon jetzt viele der wirtschaftlichen Chancen vertan, die sich seit Gorbatschow mit dem nach-totalitären Russland – und übrigens auch mit China – in einer kurzen Phase unbegrenzter Entwicklungs- und Einflussmöglichkeiten auftaten.

Aber auch der deutsche Handlungsspielraum in internationalen Konflikten wurde ohne Not eingeengt. Politisch war das Konzept der gemeinsamen Sicherheit der eigentliche Rückhalt für die Tatsache, dass es Gerhard Schröder 2003 wagen konnte, „Nein“ zum Irakkrieg zu sagen. Diese Zeiten einer Politik des Ausgleichs der Gegensätze zwischen Ost und West und eines gewissen Manövrierspielraums im westlichen Bündnis sind vorbei. Hier geht auch der Einwand in die Irre, man treibe eben keine wertfreie, sondern eine „menschenrechtsgestützte“ Außenpolitik.

Gegenüber den „Verbündeten“ Türkei und Saudi-Arabien, die zu den brutalsten Menschenrechtsverächtern im Nahen Osten gehören, scheinen diese Tugenden keineswegs zu gelten, da herrscht reine realpolitische Doppelmoral. In Wahrheit hat Angela Merkel nicht die Moral, sondern die außenpolitischen Koordinaten all ihrer Vorgänger ausgewechselt. Sie versteht Deutschland, gerade angesichts des aktuellen Schwächelns Amerikas, nun als exponierten Riegenführer und Bannerträger des siegreichen Westens, ihre aktuelle Distanzierung von Donald Trump ist Wahlkampftaktik mit Aufrüstungsabsichten.

Die Lehren, die 1989/90 gezogen wurden, waren falsch

Spätestens an dieser Stelle ist zu fragen: Wo bleibt die SPD? Wo bleiben die Grünen? Wo bleibt die Friedensbewegung? Wo bleiben die Lehren aus der Zeit der Überwindung der Blockkonfrontation und des Kalten Krieges? Wo bleibt die ehemals große Tradition der Solidarität der Linken im Fall der unerträglichen Erniedrigung Griechenlands? Wo bleibt ein Konzept für eine Befriedung des Nahen Ostens, bei der die deutsche Politik nicht einseitige Stütze einer Kriegspartei ist, sondern ausgleichender Vermittler? Wo bleibt die Stärkung der UN?

Mit den falschen Lehren aus dem Umbruch der Jahre 1989 ist die gesamte europäische Linke in eine Sinnkrise und Orientierungslosigkeit geraten, die zu ihrer umfassenden Niederlage und Bedeutungslosigkeit geführt hat. Das war vielleicht unvermeidlich.

Dass sich große Teile der sozialdemokratischen und grünen Führungsschichten aber ohne Not freiwillig in die ewige Gefangenschaft von neoliberalen und neokonservativen Politikkonzepten und -strategien begeben, deren praktische Ergebnisse nach 25 Jahren des wilden Experimentierens niemanden überzeugen, ist nichts als selbst verschuldete Unmündigkeit.

Antje Vollmer ist Politikerin von Bündnis 90/Die Grünen. Von 1994 bis 2005 war sie Vizepräsidentin des Bundestages. Peter Brandt ist Historiker, Mitglied der SPD und der älteste Sohn von Rut und Willy Brandt

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